Die Entwicklung des Unterhaltsrechts: Abwertung der Familie und Risiken für betreuende Elternteile
Die Entwicklung des Unterhaltsrechts: Abwertung der Familie und Risiken für betreuende Elternteile
Rechtsdienst des Vereins PIU
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In den letzten Jahren hat das Bundesgericht das Unterhaltsrecht durch mehrere Grundsatzentscheide grundlegend verändert. Diese Veränderungen, die formal als Fortschritte in Richtung Gleichstellung verkauft werden, haben jedoch weitreichende Konsequenzen – insbesondere für Familien, die nach traditionellen Modellen leben, und für Elternteile, die ihre berufliche Laufbahn zugunsten der Kinderbetreuung zurückstellen. Die aktuelle Rechtsprechung zeigt systematische Schwächen und schafft eine Dynamik, die das familiäre System entwertet und betreuende Elternteile in eine prekäre Lage bringt.
Von der Versorgerehe zur Eigenverantwortung
Früher galt eine Ehe als lebensprägend, wenn sie länger als zehn Jahre dauerte oder gemeinsame Kinder hervorgebracht hat. Diese Annahme führte zu einer gewissen Absicherung des Ehepartners, der sich primär um Haushalt und Kinder kümmerte. Mit der neuen Rechtsprechung wird dieser Schutz stark relativiert: Eine Ehe ist heute nur noch dann lebensprägend, wenn ein Elternteil nachweisen kann, dass die Ehe seine wirtschaftliche Selbstständigkeit nachhaltig beeinträchtigt hat. Die Beweislast liegt damit bei der Person, die Unterhalt beanspruchen möchte – ein schwieriger und oft demütigender Prozess, der mit erheblichen Unsicherheiten verbunden ist.
Die geteilte Obhut als Theorie, nicht als Praxis
Das Bundesgericht hat die geteilte Obhut formal zum Standard erklärt, doch in der Realität bleibt diese Regelung häufig einseitig. Wenn ein Elternteil die Verantwortung für die Kinder nicht teilen möchte, bleibt der andere Elternteil de facto allein – organisatorisch und finanziell. Während die Kosten für externe Kinderbetreuung oft anerkannt und aufgeteilt werden, wird die unbezahlte Eigenleistung der Betreuung kaum berücksichtigt und lediglich auf Sozialhilfeniveau abgegolten. Dies schafft eine Ungleichbehandlung, die besonders betreuende Elternteile wirtschaftlich stark benachteiligt.
Unlogische Anreize und die Abwertung der Eigenbetreuung
Ein Beispiel verdeutlicht die Inkohärenz des Systems: Wenn eine Mutter drei Kinder in eine Kinderkrippe gibt, entstehen Kosten von etwa 9.000 Franken monatlich. Diese Ausgaben würden in vielen Fällen auf beide Elternteile aufgeteilt. Betreut dieselbe Mutter die Kinder jedoch selbst, erhält sie nur den Kinderunterhalt – oft auf einem Niveau, das kaum die grundlegenden Bedürfnisse deckt. Der ökonomische Druck zwingt viele Elternteile, sich für die externe Betreuung zu entscheiden, selbst wenn dies nicht ihrem Wunsch oder dem Wohl der Kinder entspricht. Die Bindung zwischen Eltern und Kindern sowie die familiäre Stabilität bleiben dabei auf der Strecke.
Ungleichheit zwischen den Elternteilen
Ein weiteres Problem liegt in der Ungleichheit zwischen den Elternteilen. Ein gut verdienender Vater kann sich seiner Verantwortung entziehen, indem er weder Obhut übernimmt noch angemessenen Unterhalt leistet. Die Mutter, auch wenn sie gut qualifiziert ist, trägt die Hauptlast der Betreuung und hat dadurch massive Nachteile in ihrer beruflichen Entwicklung. Die aktuelle Rechtsprechung fördert diese Schieflage, indem sie die familiäre Eigenleistung entwertet und die finanzielle Eigenverantwortung zum zentralen Prinzip erklärt.
Gesellschaftliche Folgen und langfristige Risiken
Die langfristigen Konsequenzen dieser Entwicklung sind gravierend. Karriereorientierte Frauen werden zunehmend darauf bedacht sein, ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit zu sichern, anstatt sich auf eine partnerschaftliche Arbeitsteilung einzulassen. Dies führt nicht nur zu einer stärkeren Belastung der Eltern, sondern auch zu einer Entfremdung der Kinder, die von wechselnden Betreuungseinrichtungen abhängig werden. Gleichzeitig steigt das Konfliktpotenzial in Scheidungsverfahren, da die Verteilung von Ressourcen und Verantwortlichkeiten immer weniger klar geregelt ist.
Ein Appell für bessere Lösungen
Die Tendenz des Bundesgerichts, die Eigenverantwortung über den Schutz der Familie zu stellen, unterstreicht eine familienfeindliche Politik, die Fremdbetreuung fördert und die Belastungen für betreuende Elternteile ignoriert. Eine familienfreundliche Rechtsprechung müsste Eigenleistungen respektieren und eine faire Balance zwischen den Elternteilen schaffen. Der Schutz von Kindern und Familien sollte dabei im Mittelpunkt stehen, nicht die Reduktion von Unterhaltszahlungen oder die Förderung von externen Betreuungsmodellen.
Die Politik und die Rechtsprechung sind gefragt, Lösungen zu entwickeln, die die Würde der Familien wahren und die Betreuung von Kindern als gesellschaftlichen Wert anerkennen. Die derzeitige Praxis führt in eine Richtung, die weder für Eltern noch für Kinder nachhaltig ist. Es braucht ein Umdenken – hin zu einer echten Wertschätzung der familiären Bindung und einer fairen Unterstützung der betreuenden Elternteile.
Quellen
BGE 5A_907/2018 – Entscheid vom 3. November 2020:
Behandelt die neue Definition der lebensprägenden Ehe und das Prinzip der Eigenverantwortung nach der Scheidung.
BGE 5A_104/2018 – Entscheid vom 2. Februar 2021:
Klärt, dass die Bejahung einer lebensprägenden Ehe nicht automatisch einen Anspruch auf nachehelichen Unterhalt bedeutet. Die “45-er Regel” wurde in diesem Urteil aufgehoben.
BGE 5A_311/2019 – Entscheid vom 11. November 2020:
Einführung der zweistufigen Methode mit Überschussverteilung für die Berechnung von Unterhaltsansprüchen.
BGE 5A_891/2018 – Entscheid vom 2. Februar 2021:
Weiterer Grundsatzentscheid zur einheitlichen Berechnungsmethode für familienrechtliche Unterhaltsansprüche.
BGE 5A_800/2019 – Entscheid vom 9. Februar 2021:
Ergänzt die einheitliche Berechnungsmethode und die Gewichtung von Kinder-, ehelichem und nachehelichem Unterhalt.
BGE 5A_568/2021 – Entscheid vom 25. März 2022:
Klärt, dass gemeinsame Kinder allein nicht mehr automatisch eine Ehe als lebensprägend definieren. Der Betreuungsunterhalt soll primär Nachteile aus der Kinderbetreuung ausgleichen.